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Urteil des BGH vom 16.10.2001 – VI ZR 408/00

VI ZR 408/00 Verkündet am:
16. Oktober 2001
Holmes,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: ja
BGB §§ 616, 823 Aa; ZPO § 287
Der Unternehmer, der an den Beschäftigten bei dessen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit
aufgrund vertraglicher Vereinbarung das Gehalt weiterbezahlt, darf sich
entsprechend dem Rechtsgedanken des § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG für den Nachweis
der Arbeitsunfähigkeit auf die ohne zeitliche Lücke vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
verlassen, wenn nicht tatsächliche Umstände ernsthafte Zweifel an
der Glaubhaftigkeit des Inhalts der ärztlichen Zeugnisse begründen.
BGH, Urteil vom 16. Oktober 2001 - VI ZR 408/00 - OLG Nürnberg
LG Nürnberg-Fürth
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 16. Oktober 2001 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Müller, die Richter
Dr. Dressler, Dr. Greiner, Wellner und die Richterin Diederichsen
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin zu 2) wird das Urteil des 9. Zivilsenats
des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 4. Oktober 2000 im
Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil der Klägerin
zu 2) erkannt worden ist.
Insoweit wird die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an
das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch der Klägerin
zu 2) auf Erstattung von Gehaltsfortzahlungen an ihren Geschäftsführer, den
früheren Kläger zu 1). Dieser hat am 7. September 1994 einen Verkehrsunfall
erlitten, den der Versicherungsnehmer der Beklagten schuldhaft verursacht
hatte. Die volle Einstandspflicht der Beklagten ist unstreitig.
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Die Klägerin zu 2) macht geltend, daß sie an den Kläger zu 1) aufgrund
vertraglicher Vereinbarung Gehaltszahlungen vom 7. September 1994 bis
30. Juni 1995 in Höhe von 89.781,17 DM geleistet habe.
Der Kläger zu 1) hat vorgetragen, er habe bei dem Unfall eine Distorsion
der Halswirbelsäule erlitten und sei deshalb mindestens bis 30. Juni 1995 arbeitsunfähig
gewesen. Er müsse mit künftigen materiellen und immateriellen
Schäden wegen einer Gefügestörung im Bereich der Halswirbelsäule und des
dadurch verursachten Nervenwurzelreizsyndroms, die sich nach dem Unfall
entwickelt hätten, rechnen. Er hat ein Schmerzensgeld von mindestens
10.000 DM und die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten, für die künftigen
materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis einzustehen,
beantragt. Die Klägerin zu 2) hat ebenfalls Feststellung beantragt und Ersatz
ihrer Aufwendungen in Höhe von 89.781,17 DM verlangt.
Die Beklagte hat weiterwirkende Dauerschäden in Abrede gestellt. Sie
hat behauptet, die Beschwerden des Klägers zu 1) seien auf unfallunabhängige
Ursachen zurückzuführen. Die Unfallfolgen seien ausgeheilt.
Nachdem die Beklagte im Laufe des Rechtsstreits an den Kläger zu 1)
ein Schmerzensgeld von 2.000 DM und an die Klägerin zu 2) 8.954,16 DM als
Ausgleich für die an den Kläger zu 1) geleistete Gehaltsfortzahlung bezahlt hat,
haben die Parteien in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht den
Rechtsstreit insoweit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt.
Das Landgericht hat dem Kläger zu 1) ein weiteres Schmerzensgeld in
Höhe von 1.000 DM und der Klägerin zu 2) für die Gehaltskosten bis zum
20. Oktober 1994 weitere 579,17 DM nebst 4 % Verzugszinsen zugesprochen
und die Klage im übrigen abgewiesen. Die Berufung der Kläger hatte keinen
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Erfolg. Mit der Revision verfolgt die Klägerin zu 2) - künftig: Klägerin - ihren
Zahlungsanspruch und den Feststellungsantrag weiter, hinsichtlich dessen sie
klargestellt hat, daß von vornherein nur ihre materiellen Zukunftsschäden erfaßt
sein sollten.
Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat nicht für bewiesen erachtet, daß der Kläger zu
1) wegen seiner Verletzungen über den 20. Oktober 1994 hinaus arbeitsunfähig
gewesen sei. Der behandelnde Arzt Dr. G. habe zwar seine Arbeitsunfähigkeit
bis zum 30. Juni 1995 in einem Attest bestätigt. Auch sei bewiesen, daß
der Kläger zu 1) bei dem Unfall eine Distorsion der Halswirbelsäule erlitten habe.
Der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. Z. habe aber überzeugend dargelegt,
daß die geltend gemachten Beeinträchtigungen Folge einer fortgeschrittenen,
unfallunabhängigen, degenerativen Veränderung der Halswirbelsäule
seien. Es könne deshalb von einer Arbeitsunfähigkeit zu 100 % bis zum
20. Oktober 1994, zu 20 % vom 21. Oktober 1994 bis 20. Januar 1995 und nur
noch zu 10 % in der Zeit vom 21. Januar 1995 bis 6. September 1995 ausgegangen
werden. Ein Anspruch auf Lohnfortzahlung habe nur für den Zeitraum
vom 7. September 1994 bis 20. Oktober 1994 (44 Tage) bestanden. Danach
sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers zu 1) nicht mehr erheblich beeinträchtigt
gewesen. Zwar habe der behandelnde Arzt Dr. G. eine Gefügestörung im Bereich
der Halswirbelsäule mit wiederkehrender Instabilität beim Kläger zu 1)
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diagnostiziert und bestätigt, daß der Kläger in der Ausübung seines Berufes als
Kfz-Meister wegen dieser Unfallfolgen erheblich eingeschränkt gewesen sei.
Der gerichtliche Sachverständige habe aber in seinem schriftlichen Gutachten
diese Diagnose und die Folgerungen daraus überzeugend widerlegt. Die Vernehmung
des behandelnden Arztes Dr. G. und ein weiteres Gutachten seien
nicht erforderlich gewesen, da die bestehenden diagnostischen Möglichkeiten
bei Erstattung des Gutachtens von Prof. Dr. Z. ausgeschöpft worden seien.
II.
Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision nicht stand.
Zu Recht wendet sich die Revision dagegen, daß das Berufungsgericht
bei der Ermittlung der Höhe des Schadensersatzanspruches der Klägerin lediglich
für die Zeit vom 7. September 1994 bis 20. Oktober 1994 von der Arbeitsunfähigkeit
des Klägers zu 1) infolge des Verkehrsunfalles ausgegangen
ist, weil nach dem schriftlichen Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen
die Arbeitsfähigkeit des Klägers zu 1) nur bis zu diesem Zeitpunkt zu 100 %, in
der Folgezeit dann lediglich zu 20 % bzw. zu 10 % vermindert gewesen sei.
Zwar hat das Berufungsgericht - im Ansatz zutreffend - das Beweismaß
des § 287 Abs. 1 ZPO zugrunde gelegt, soweit es um den Umfang des verletzungsbedingten
Schadens geht. Danach ist der Richter bei der Feststellung
des Umfangs des Schadens freier gestellt. Im Unterschied zu den strengen
Anforderungen des § 286 Abs. 1 ZPO, die für den Beweis der haftungsbegründenden
Kausalität eingreifen, reicht bei der Entscheidung über die Höhe des
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Schadens für die richterliche Überzeugungsbildung eine erhebliche Wahrscheinlichkeit
aus, vorausgesetzt, daß das Wahrscheinlichkeitsurteil auf gesicherter
Grundlage beruht. Die Vorschrift des § 287 Abs. 1 Satz 2 ZPO stellt
darüber hinaus die Beweiserhebung in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichts.
Dies bedeutet, daß das Gericht im Rahmen des § 287 ZPO an Beweisanträge
nicht gebunden ist (vgl. Senatsurteil vom 9. Oktober 1990 - VI ZR
291/89 - NJW 1991, 1412, 1413).
Das Berufungsgericht ist aber der Verpflichtung des Tatrichters nicht gerecht
geworden, im Rahmen der Schadensermittlung nach § 287 ZPO den gesamten
Parteivortrag zu würdigen und alle für die Beurteilung maßgeblichen
Umstände zu berücksichtigen (Senatsurteil vom 11. Mai 1993 - VI ZR 207/92 -
VersR 1993, 969, 970). Es durfte nicht außer Acht lassen, daß die Klägerin
geltend gemacht hat, die Gehaltsfortzahlungen aufgrund der vom Kläger zu 1)
vorgelegten ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen geleistet zu haben,
wobei die Revisionserwiderung allerdings mit ihrer Gegenrüge die Zahlung in
Frage stellt. Hierzu hat die Klägerin vorgetragen, daß sie aufgrund vertraglicher
Vereinbarung mit dem Kläger zu 1) diesem gegenüber zur Gehaltsfortzahlung
verpflichtet gewesen sei, wobei sich dies unter den Umständen des
Streitfalles dahin versteht, daß im Fall der Zahlung eine konkludente Abtretung
der entsprechenden Schadensersatzforderung des Klägers zu 1) an sie erfolgt
sei (vgl. Senatsurteil BGHZ 107, 325, 329). Ob eine solche Abtretung vorliegt,
wäre vom Tatrichter zu prüfen gewesen.
Sollte eine solche festgestellt werden können, wird das Berufungsgericht
zu beachten haben, daß sich die Klägerin nicht ohne weiteres über die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
hinwegsetzen konnte, die ihr vom Kläger zu
1) bis 30. Juni 1995 vorgelegt worden sind. Der Arbeitnehmer, der die Entgelt-
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fortzahlung begehrt, führt nämlich den Beweis, daß er arbeitsunfähig ist, gemäß
§ 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG in der Regel durch Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
(vgl. BAG, Urteil vom 1. Oktober 1997 - 5 AZR
726/96 - AP Entgeltfortzahlungsgesetz § 5 Nr. 5 = NJW 1998, 2762 ff.; Soergel/
Kraft BGB 12. Aufl. § 616 Rdn. 61). Auch wenn es vorliegend um die Weiterzahlung
des Gehalts aufgrund einer vertraglichen Vereinbarung geht, durfte
sich die Klägerin entsprechend dem Rechtsgedanken des § 5 Abs. 1 Satz 2
EFZG für den Nachweis der Arbeitsunfähigkeit auf die ohne zeitliche Lücke
vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen verlassen, wenn nicht tatsächliche
Umstände Anlaß zu ernsthaften Zweifeln an der Glaubhaftigkeit des
Inhalts der ärztlichen Zeugnisse gaben. Vertraut nämlich der Arbeitnehmer in
einer solchen Situation berechtigterweise auf die ihm bescheinigte Arbeitsunfähigkeit
und arbeitet deshalb nicht, so entsteht ihm hierdurch ein ersatzfähiger
Schaden in Höhe des entgangenen Gehalts, der als normativer Schaden durch
die Gehaltsfortzahlung des Arbeitgebers nicht entfällt. Infolgedessen kann der
auf Ersatz dieses Schadens gerichtete Anspruch an den Arbeitgeber abgetreten
werden.
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III.
Bei der erneuten Verhandlung der Sache werden die Parteien Gelegenheit
haben, zu ihren weiteren Einwendungen gegen die bisherigen Überlegungen
des Berufungsgerichts ergänzend vorzutragen.
Dr. Müller Dr. Dressler Dr. Greiner
Wellner Diederichsen

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